Die Geschichte hinter den ersten Tausend Kranichen

Es ist schon einige Zeit her, da bekam meine Mutter die unerwartete Diagnose:  Krebs. Ich war am Boden zerstört.

Sie war – und ist es noch – eine der warmherzigsten Personen, die ich kennenlernen durfte. Sie hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht Kindern mit Behinderung eine Perspektive zu bieten, unabhängig von deren Herkunft oder Abstammung. Selbst in meinen härtesten Zeiten war sie immer da, um mich zu unterstützen.

Ihr Lebensstil war immer gesund und sportlich und wir machten manchmal Witze, dass wenn es Karma gäbe, sie wohl vor allen Gefahren gefeit wäre.

Doch Krebs kümmert sich nicht um das, was wir alltäglich tun, unseren Lebensstil oder die Liebe, die wir für andere Menschen empfinden.

Was folgten, waren erst Wochen, dann Monate der ständigen Beunruhigung, Untersuchungen und Operationen.

In den Zeiten, die folgten als ihr Krebs schlimmer wurde, fiel ich eine sonderbare Art der Depression. Ich konnte nicht einfach traurig sein, denn sie war ja noch da und manchmal, wenn sie nicht gerade im Krankenhaus war, konnte man meinen es wäre alles normal, so wie früher.

Aber nach einigen Operationen, wenn sie sich für Wochen am Stück nicht bewegen konnte, zu erschöpft und ausgezehrt war, war es fast so, als wäre alle Hoffnung bereits verloren.

Dann mäandrierte ich zwischen zwei Welten: Mir vorzustellen, wie sie wieder genesen könne, und wie es wäre, wenn sie uns nun verlassen würde. Doch beide Seiten entsprachen nicht der Realität und wir befanden uns in einer Zwischenstufe zwischen Verlust und Hoffnung – jede Seite davon fast täglich angetrieben durch die sich immer-ändernden Meinungen von Ärzten, Freunden und Menschen, die glaubten sich einmischen zu müssen.

Seltsamerweise war es nie meine Mutter selbst, die ihre Stärke verlor. Sie versuchte stets so aktiv zu sein, wie es ihre körperlichen Fähigkeiten in dem Moment zuließen. Wenn es ihr Schmerz zuließ, fand sich immer ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Meinen eigenen Freunden hatte ich bis dahin nichts davon erzählt – es fühlte sich an, als würde ich dadurch ihre Stärke betrügen, wenn ich selbst andere um Trost ersuchen würde. Und genauso wenig wie meine Mutter, wollte ich das Mitgefühl derer belasten, die mir nahestanden, und sie nicht mithinunterziehen an diesen dunklen Ort, an dem ich vegetierte.

Erst Wochen, dann Monate, und letzten Endes ein ganzes Jahr gingen ins Land, voller Höhen und Tiefen, Hoffnung und Verzweiflung. In dieser Zeit fühlte ich mich, als würde ich ziellos umherwandern. Es war nach einem weiteren Besuch im Krankenhaus, als ich in meinen bekümmerten Zustand zurückkehrte, dass ich erkannte, dass sich etwas ändern musste.

Es war ein ganzes Jahr vergangen, voller Krankenhausbesuche, besorgter Anrufe und vor allem Selbstmitleid.

Meine in den Jahren zuvor hart erarbeiteten Uni-Noten stürzten ab, die letzten Tropfen meiner Motivation und Lebensfreunde schwanden schnell und ich wollte und konnte mir die Endstation gar nicht vorstellen.

Mehr und mehr fühlte ich mich, als würde ich sie und ihre Stärke betrügen, indem ich dieses Unglück mich und sie herunterziehen ließ.

Und ich merkte genau, dass es in letzter Zeit nicht ihr Zustand war, der sie traurig machte, sondern meiner.

Es war dieser Moment, als ich die Notwendigkeit der Veränderung spürte, indem ich anfing Origami-Kraniche zu falten.

Ich hatte in meiner Vergangenheit immer wieder gefaltete Kraniche gesehen, immer verbunden mit Gefühlen der Hoffnung und Verbundenheit – und das konnte ich in diesem Moment gut gebrauchen. Meine Mutter und ich hatten uns schon immer der Japanischen Kultur besonders verbunden gefühlt – daher auch mein japanischer Zweitname – Yukio (征男 – ユキオ).

Zunächst sahen sie noch krumm und knittrig aus – doch in diesen Momenten gelang es mir mit meiner Traurigkeit klarzukommen. Wenn ich mich auf das Falten fokussierte, dann verdrängte ich das alles nicht, sondern begann es zu verarbeiten.

Diese Zeit kam einer Meditation gleich, in der ich spüren konnte, wie ich Stück für Stück die Kraft zurückgewinnen konnte, mich aus meinem Loch zu ziehen.

Eine alte japanische Legende besagt, dass wer 1000 Origami-Kraniche faltet (千羽鶴 – Sen Bazuru), dem wird ein Wunsch erfüllt, ewiges Glück oder eine rasche Genesung geschenkt.

Und während ich in keinster Weise abergläubig war, so erfüllten meine ersten Tausend Kraniche doch genau diesen Zweck für mich. Sie waren für mich der Ausdruck meines neuen Bemühens. Während ich faltete, konnte ich wieder Achtsamkeit in meinem Leben spüren und diesen Wünschen näherkommen.

Mehr und mehr konnte ich meinem Leben wieder eine Richtung geben. Ich erkannte, dass meine Lebensfreude meiner Anteilnahme nicht entgegenstand. Die Besuche im Krankenhaus veränderten sich, ich empfand sie nicht mehr als einen verfrühten Gang zum Friedhof, sondern konnte wieder Kraft daraus schöpfen.

Selbst wenn meine Mutter es sich nie anmerken ließ, so merkte ich doch in diesem Moment, dass auch sie kurz davor gewesen war die Hoffnung zu verlieren.

 

Doch als ich zunehmend verändert zu ihr zurückkehrte, wurden diese Besuche wieder zu einer Kraftquelle für uns beide.

Ich kam von einem dunklen Ort empor, während auch meine Mutter langsam ihre Genesung antrat.

Wir konnten niemals wissen, wann der Krebs zurückkehrt, aber solange wie meine Mutter und ich die gemeinsame Zeit wieder genießen konnten, so formten wir Tag für Tag wieder neue schöne Erinnerungen.

Ich war wieder in der Lage die Kontrolle über mein Leben zu übernehmen. Ich definierte meine Ziele und Ambitionen neu. Ich nahm den riesigen Stapel an liegengelassenen Aufgaben wieder in Angriff.

Es war als würde ich nach einer langen Abwesenheit in eine verwahrloste Wohnung zurückkehren. Ich glaubte wieder an mich und hatte wieder Hoffnung. Ich konnte wieder frei atmen und endlich wieder Ordnung in mein Leben und meine Beziehungen bringen.

Auf meinem Weg aus der Krise hörte ich nie auf zu falten und die Kraniche sammelten sich. Zunächst fädelte ich sie auf Fäden und hängte sie auf, doch mit der Zeit begannen sie Staub anzusammeln und zu verblassen. Dann begann ich sie in dicke Bilderrahmen zu stecken.

Zunächst griff ich sie nur zufällig und presste beliebige Farben und Größen ohne Absicht gegen das Glas. Doch nach einiger Zeit begann ich Muster zu formen, die Farben und Ausrichtungen der einzelnen Kraniche zu arrangieren. Und auf einmal besaß jeder Rahmen ein eigenes Aussehen und einen individuellen Charakter.

Schnell begannen sich eigene Ideen und Kompositionen in meinem Kopf zu formen und ich begann das Papier – mit dem Endergebnis bereits vor meinen Augen –  auszuwählen.

Der Prozess des Anordnens wurde für mich ebenfalls zu einer Art Meditation, inspiriert von der japanischen Kunst des Blumensteckens (活け花 – Ikebana), die Kunst, die inneren Qualitäten der verwendeten Blumen herauszustellen und damit Emotionen auszudrücken.

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